Der Beschluss der Bundesregierung im Sommer 2015, die Grenze für syrische Flüchtlinge zu öffnen, wurde von vielen als humanitäre Antwort auf den Zustrom von Flüchtlingen über die »Balkanroute« gewertet. Verglichen mit den Reaktionen vieler anderer Staaten entlang der Route, die zum Beispiel im Schnellverfahren ihre Außengrenzen mit Zäunen befestigten, kann diese Entscheidung tatsächlich als humanitärer Akt betrachtet werden. Diese zeitweilige Aussetzung der Dublin-Verordnung sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass MigrantInnen und Geflüchtete diese Grenzen schon seit mehreren Jahren passieren und in immer größerer Zahl »irregulär« in Westeuropa leben.
Gleichzeitig haben die Bundesregierung und die EU eine Vielzahl neuer, restriktiver Migrations- und Grenzpolitiken eingeführt. Der Bundestag verabschiedete in kurzen Abständen zwei »Asylpakete«, durch die unter anderem die Rückführung abgelehnter Asylsuchender erleichtert und die Regelungen zum Familiennachzug für anerkannte Flüchtlinge aufgehoben wurden. Weiterhin wurden immer mehr Länder als sogenannte »sichere Herkunftsstaaten« eingestuft, insbesondere die Balkanstaaten Serbien, Kosovo, Albanien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina und Mazedonien. Infolgedessen gelten Asylanträge aus diesen Ländern für deutsche Behörden als »offensichtlich unbegründet« und werden in der Regel abgelehnt. Die Aussichten für Hilfesuchende auf Asyl sind sehr gering, bereits vor dieser Entscheidung lag der Anteil der abgelehnten Asylanträge aus Serbien in Deutschland bei 99 Prozent (bzw. 97 Prozent für Asylsuchende aus dem Kosovo).
Allerdings hat diese Einstufung der Balkanländer als »sicher« bedeutende und weitreichende Konsequenzen, und zwar nicht nur für derzeitige Asylsuchende, sondern auch für Menschen, die schon seit Jahren, teils sogar seit Jahrzehnten, in Deutschland leben. Die Mehrheit der Asylsuchenden aus Serbien, dem Kosovo und Mazedonien sind Roma, die in ganz Europa Verfolgung, Marginalisierung und sozialen Ausschluss erfahren. Es gibt nur wenige zuverlässige Statistiken zur ethnischen Abstammung der Asylsuchenden, doch geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE hervor, dass ca. 70 Prozent der Flüchtlinge aus dem Kosovo, die 2014 in Deutschland Asyl beantragten, Roma, Ashkali oder Balkan-ÄgypterInnen waren. Die Entscheidung der deutschen Regierung bedeutet für sie, dass ihre Aussicht als Flüchtlinge anerkannt zu werden, nun noch geringer ist und dass sie in Asylverfahren stark benachteiligt werden. Sie gelten zumeist als »Wirtschafts-« oder »Armutsflüchtlinge« oder gar als »Asylbetrüger«.
PolitikerInnen und die Asylbehörden führen die Motive der Migration von Roma systematisch auf Armut und wirtschaftliche Gründe zurück und ignorieren dabei völlig den in ganz Europa verbreiteten Antiziganismus und die damit verbundene direkte und strukturelle Diskriminierung von Roma. Die Mehrzahl der 10-12 Millionen Sinti und Roma in Europa lebt unter erheblich schlechteren Bedingungen als ihre MitbürgerInnen. Die Mehrheit von ihnen ist innerhalb und außerhalb der Europäischen Union von sozialem Ausschluss, Vorurteilen und Benachteiligung konfrontiert. Ihre Geschichte in Europa ist vielfach eine Geschichte von Repression, Verfolgung und Vertreibung – nicht zu vergessen der nationalsozialistische Genozid an den Roma im Zweiten Weltkrieg. Auf dem Papier haben sich die EU und die deutsche Regierung dazu verpflichtet, die Verfolgung und den Ausschluss der Roma zu bekämpfen. In der Praxis jedoch sind die deutschen Behörden nicht einmal bereit, die direkte und strukturelle Diskriminierung, der viele Roma in den Balkanländern ausgesetzt sind, als Asylgrund anzuerkennen.
Im Schatten der deutschen »Willkommenskultur« werden täglich Menschen abgeschoben; die Mehrzahl von ihnen stammt aus dem Balkan. Die Zahl der Abschiebungen hat sich im Jahr 2015 verdoppelt und ist auch 2016 rasant angestiegen. Viele Roma wurden unter Zwang in Länder zurückgeschickt, die sie aufgrund von Antiziganismus, chronischer Armut und dem weitreichenden Ausschluss von der sozialen Grundversorgung, wie Wohnraum, Arbeit, Gesundheitsversorgung und Bildung, verlassen haben. Ihre Herkunftsländer wurden vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), Menschenrechtsorganisationen und selbst vom Europarat immer wieder wegen systematischer Diskriminierung der Roma kritisiert. Solche Feststellungen und Berichte werden aber in Asylverfahren systematisch ignoriert, Menschen werden abgeschoben oder ihnen wird die Ausreise aus ihrem Heimatland verweigert. Trotz der Versprechen ihrer Regierungen und der EU, die Roma zu integrieren, erhalten sie keine ausreichende Unterstützung. Die existierenden Integrationsprogramme haben bisher nur unwesentliche Erfolge erzielt. Angesichts von Sparmaßnahmen, Kürzung von Sozialleistungen, hoher Arbeitslosigkeit und allgemeiner Armut in den Balkanländern sind solche kurzfristigen lokalen Integrationsprojekte auch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein und stellen für die benachteiligten Roma keineswegs eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen in Aussicht. Dazu kommt, dass die große Mehrzahl der Roma-Gemeinschaften bei der Verteilung der Mittel für ihre »Integration« kein Mitspracherecht hat. Dies nährt das ohnehin schon bestehende Vorurteil gegenüber den Roma: Egal was passiert, sie wollen sich einfach nicht integrieren.
Mit dieser Broschüre möchten wir diese überwiegend verborgenen Prozesse thematisieren: die Änderungen der Asylgesetze, die den drastischen Anstieg von Abschiebungen zur Folge haben, die Auswirkungen dieser Gesetze auf MigrantInnen aus den Balkanländern und die weitverbreitete Diskriminierung und Lebenssituation der Roma im Balkan, vor allem in Serbien und im Kosovo. Wir wollen zeigen, dass Roma und Sinti nicht nur in ihren Heimatländern, sondern auch durch rassistische und protektionistische Migrationsgesetze und Asylpraktiken diskriminiert werden. Wir beschäftigen uns mit der Frage, warum Integrationsprogramme für Roma, auf die PolitikerInnen immer gern verweisen, bisher noch keine Verbesserung der Situation der Roma erzielt oder zur Bekämpfung der Migrationsursachen beigetragen haben. Schließlich möchten wir auch Alternativen zur aktuellen unmenschlichen Behandlung von MigrantInnen aus den Balkanländern vorstellen.
Wenke Christoph, Tamara Baković Jadžić & Vladan Jeremić