PRAXIS. Kritik und Humanistischer Sozialismus
Konferenz zur jugoslawischen Praxis-Philosophie und der Sommerschule auf Korčula (1963-1974) - Erinnerungsort und Aktualität
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Es war ein einmaliger Ort des Austauschs über die Grenzen des Kalten Krieges hinweg. Zwischen 1963 und 1974 trafen sich auf der Adriainsel Korčula kritische Intellektuelle aus Ost und West zu einer alljährlichen „Sommerschule“. Die Räume des kleinen Korčulaner Kulturhauses wurden für einen Moment zu einem Zentrum weltweiter Debatten um die Neubestimmung kritischer Philosophie, Soziologie und, untrennbar damit verbunden, der politischen Perspektivsuche. Herbert Marcuse, Ernst Bloch, Jürgen Habermas, Zygmunt Baumann und Agnes Heller sind nur einige Namen aus der langen Liste der internationalen Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Organisiert wurde die Veranstaltung von Mitarbeitern der in Zagreb herausgegebenen „Philosophischen Zeitschrift Praxis“, in der kritische Autorinnen und Autoren aus ganz Jugoslawien publizierten.
Im Zentrum der Debatten der Sommerschule und der Zeitschrift Praxis stand die Suche nach neuen Wegen der Emanzipation. In Abgrenzung zum deterministischen „Sowjetmarxismus“ entwickelte Praxis eine Diskussion über einen „humanistischen Marxismus“, der das kreative Subjekt in den Mittelpunkt stellte. Diese Diskussionen standen im globalen Kontext der Zeit. In ihnen äußerten sich Denkanstöße der westlichen Neuen Linken und der Frankfurter Schule genauso wie Elemente der Stalinismuskritik von Intellektuellen aus Osteuropa. Im relativ offenen intellektuellen und politischen Klima im Jugoslawien der Sechzigerjahre konnten sich die kritischen Debatten zunächst entfalten. Mit der Re-Dogmatisierung des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens am Beginn der Siebzigerjahre verstärkte sich allerdings der repressive Druck auf Praxis. 1974 wurden die Zeitschrift und die Sommerschule eingestellt.Das intellektuelle Erbe von Praxis und der Korčula Sommerschule ist heute verschüttet. Eine systematische und kontinuierliche wissenschaftliche Auseinandersetzung findet nicht statt. Das Erbe passt nicht in das Paradigma des neoliberalen Kapitalismus. Es steht auch quer zur Retraditionalisierung und Ethnifizierung der postjugoslawischen Gesellschaften. Mit der Konferenz möchte die Rosa Luxemburg Stiftung einerseits zur historischen Rekonstruktion der theoretischen Diskussionen von Praxis und während der Sommerschulen beitragen und Praxis als einen Erinnerungsort konstituieren, der sowohl die auf eine kritische Erneuerung des Marxismus gerichteten osteuropäischen Debatten als auch die beginnende gesamteuropäische Verständigung im Zeichen kritischer Theorie aufnimmt. Unsere Fragestellung lautet andererseits, ob die philosophischen Prämissen von Praxis und der damaligen Debatten einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus repräsentierten und welche Aktualität ihre Gesellschaftskritik heute noch besitzt. Auf der Konferenz sollen Zeitzeugen und TeilnehmerInnen der historischen Praxis und der Sommerschulen genauso zu Wort kommen wie jüngere WissenschaftlerInnen und kritische Intellektuelle. Es sollen verschiedene thematische Dimensionen diskutiert werden.
PHILOSOPHIE
Mit dem Rückgriff auf zentrale Elemente aus dem Frühwerk von Karl Marx formulierten Praxis-Autoren eine scharfe Kritik am „mechanischen Determinismus“ und der „Widerspiegelungstheorie“ des „Sowjetmarxismus“. Im Gegensatz zur dominanten Strömung der „alten“ und institutionalisierten Linken legten sie mit der Praxis-Philosophie den Fokus auf die zu entwickelnden Kreativpotentiale des „schöpferischen Menschen“ und die damit zusammenhängende Entfremdungsproblematik. Wir wollen der Frage nachgehen, in welcher Beziehung die „Praxis-Philosophie“ zu den internationalen zeitgenössischen Diskussionen stand. Gab es Bezüge von Praxis zum französischen Existentialismus und der Frankfurter Schule? Auf welche Weise wurden kritische Theorien aus Ost und West rezipiert? Darüber hinaus ist auf die Divergenzen innerhalb des Philosophenkreises um die Praxis selbst einzugehen, denn es existierte keine homogene Praxis-Schule. Es stellt sich auch die Frage, ob und wie die Praxis-Philosophie den Weg in die Postmoderne vorbereitet hat.
POLITIK UND GESCHICHTE
Für die Praxis-Philosophen stellte die Philosophie keine bloß akademische Disziplin dar, die sich lediglich metaphysischen Frage- und Problemstellungen widmen sollte. Praxis definierte ihre Philosophie vielmehr als eine „eingreifende Wissenschaft“, die aktiv Entscheidungsprozesse beeinflussen wollte. Demgegenüber stand eine staatliche Struktur, die eine „eingreifende Wissenschaft“ als systemgefährdend ablehnte. Es stellt sich die Frage, wie sich dieses spannungsreiche Wechselverhältnis im jugoslawischen Kontext auswirkte, und worin die politische Brisanz der Eingriffe der jugoslawischen Linksphilosophie bestand? Interessant ist diese Fragestellung vor allem, weil die Praxis-Philosophie die emanzipatorischen Grundideen des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus nicht verwarf, sondern im Gegenteil affirmierte. Es stellt sich darüber hinaus die Frage, in welcher Beziehung Praxis zur Protestbewegung von 1968 in Ost und West stand? Erreichte Praxis die von ihr selbst postulierte Synthese zwischen „Praxis“ und „Theorie“? Aus heutiger Perspektive soll gefragt werden, wie sich eine kritisch-historische Erinnerung an die politische und ästhetische Kultur der „Praxis”-Bewegung herstellen lassen kann?
KULTUR UND KUNST
Im Verlauf der Sechzigerjahre entwickelten sich in Jugoslawien bedeutende Neuerungen und Neujustierungen auf dem Feld der Kultur. Insbesondere das Theater und der jugoslawische Film erlebten eine fruchtbare und innovative Schaffensperiode. Im Rahmen der Konferenz wird zu fragen sein, welche Interdependenzen zwischen den theoretisch-politischen Fragestellungen der Praxis-Philosophie und den künstlerischen Neukonzeptionen bestanden, wie sie sich beispielsweise in den Filmen der „Schwarzen Welle“ ausdrückten. Wie wirkten sich die philosophischen Debatten auf die Kunst aus, welche Themen wurden behandelt und, nicht zuletzt, wie wurden sie szenisch dargestellt? Welche Parallelentwicklungen gab es in anderen osteuropäischen Ländern?