LANGE LINIEN DER GEWALT
1914 – Der Weg in den Ersten Weltkrieg. Problemaufriss einer aktuellen Debatte
100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges und 50 Jahre nach der vom Hamburger Historiker Fritz Fischer ausgelösten Kontroverse um die Kriegsschuld wird in den Universitäten und den Feuilletons wieder leidenschaftlich über die Kriegsursachen und die Verantwortlichkeiten gestritten. Hochkonjunktur haben Publikationen, in denen die Ansicht vertreten wird, dass es eine allgemeine und gleichgewichtige Verantwortung für den Krieg gibt. Muss also bisher als gesichert geltendes Wissen, muss die Überzeugung revidiert werden, dass das Deutsche Reich mit hauptverantwortlich für die Entwicklung war, die in den Krieg führte? Nein, dazu besteht im Kern kein Anlass! Der gegenwärtig an Bedeutung gewinnenden relativierenden Auffassung ist außerdem eine deutliche Tendenz der Delegitimierung historischer und gegenwärtiger politischer Alternativen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft repräsentativ-demokratischer Prägung immanent.
Der 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges hat einen regelrechten «Erinnerungstsunami» ausgelöst. Eine riesige Welle wissenschaftlicher und populärer Publikationen, Ausstellungen, Konferenzen, TV-Beiträge und Veranstaltungen reißt das interessierte Publikum förmlich mit sich, spült alte und neue diskursive Räume frei, um sie gleich wieder zu fluten, ehe man so recht Gelegenheit hatte, sich freizuschwimmen, sich zu orientieren im Überangebot an Analysen, Deutungen und Meinungen. Besonders die sonst unter HistorikerInnen eher fachintern geführten Diskussionen über die Kriegsursachen und Verantwortlichkeiten haben eine neue Dynamik erfahren und werden inzwischen vor einer breiten interessierten Öffentlichkeit ausgetragen. Das ist gut so, aber auch in verschiedener Hinsicht problematisch.
Die aktuellen Debatten bieten wenigstens aus zwei Gründen Anlass zu kritischer Intervention: Zum einen beginnt ein relativistischer und revisionistischer Diskurs über die Ursachen des Krieges und die Verantwortung der Mittelmächte, Deutsches Reich und Österreich-Ungarn, die öffentliche Debatte zu dominieren. Hieraus leiten sich zum anderen problematische geschichtspolitische Interpretationen ab, die einer Viktimisierung, also einer Opferrolle Deutschlands das Wort reden und eine Rückbesinnung auf nationale Identitäten fordern. Diese Positionen fügen sich nahtlos in die offiziöse vergangenheitspolitische Meistererzählung und entsprechende erinnerungskulturelle Praktiken zur jüngeren deutschen Geschichte ein, die mit dem unhinterfragbaren Primat einer repräsentativen Demokratie als Ordnungsprinzip einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft das «Ende der Geschichte» gekommen sehen. Mit diesen Deutungen lassen sich zugleich gegenwärtige deutsche neoimperialistisch deutbare Ambitionen legitimieren.
Der vorliegende Text möchte in die aktuelle Diskussion einführen. Zugleich unterbreitet er ein Deutungsangebot zu den aufgeworfen Fragen und skizziert die Stationen auf dem Weg in den Krieg vor dem Hintergrund der aktuell wieder polarisierenden Debatte. Hierbei sind Ursachen und Auslöser des Krieges in gleicher Weise zu berücksichtigen, wenn es zunächst um kriegsverursachende Strukturen und schließlich auch um einen Blick auf jene Tage im Juli 1914 gehen wird, in denen wenige Akteure Schicksal spielten.