IN DER EUROPÄISCHEN PERIPHERIE
Interview: Mara Puskarević | Das Interview ist ursprünglich erschienen in der Monatszeitung ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis | Nr. 623 | 17.1.2017
Du bist Teil des Roma Forum Serbiens. Was macht ihr?
Tamara Bakovic Jadzic: Das Roma Forum Serbien ist eine linke Organisation, die sich mit der Vernetzung und Organisierung der Roma und Romni Community innerhalb Serbiens beschäftigt. Wir bieten politische Bildungsarbeit zu Themen linker Politik für Roma und Romni an. Außerdem sind wir Teil eines linken Bündnisses in Serbien, dem Levi Samit Srbije. Darin sind verschiedene progressive linke Organisationen, aber auch Gewerkschafter_innen organisiert, die in autonomen Arbeitskämpfen aktiv waren, sowie Gruppen, die für Minderheitenrechte eintreten.
Im Februar bist du auf einer Speakers Tour in Deutschland, um die kürzlich veröffentlichte Broschüre »Von wegen sicher. Das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten in der Kritik.« vorzustellen. Worum geht es darin?
Hauptsächlich kritisieren wir in der Broschüre, die vom Belgrader Büro der Rosa Luxemburg Stiftung herausgegeben wird, die restriktive Migrationspolitik der BRD. Am Anfang sind nur ein paar Länder des Balkans als »sichere Herkunftsländer« deklariert worden. Nun bemerken wir, dass die Liste immer länger wird: Auch die Maghrebstaaten sollen als sicher erklärt werden und das deutsche Innenministerium stuft sogar Teile Afghanistans als sicher ein. In der Broschüre stellen wir Serbien und Kosovo als zwei exemplarische Fälle vor, um zu zeigen, welche Konsequenzen die Einführung der »sicheren Herkunftsländer« für Roma und Romni haben. Wir wollen auch darlegen, warum es für sie dort alles andere als sicher ist. Denn die meisten Asylsuchenden aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien sind Roma und Romni. Die Asylverschärfungen haben zur Folge, dass ihre Asylanträge nicht mehr einer umfangreicheren Prüfungsprozedur unterliegen, der jeweils individuelle Asylgrund kaum belegt werden kann und sie so schneller abgeschoben werden können. Außerdem behandeln wir den breiteren politischen Kontext, in dem diese Gesetzesänderungen gerade stattfinden. Das Konzept der »sicheren Herkunftsländer« hat auch den Rassismus innerhalb Europas erstarken lassen. Drittens haben wir versucht, die Debatten über die Alternativen zu den jetzigen migrationspolitischen Entwicklungen zusammenzufassen. Dabei versuchen wir, die Verschärfung der Asylgesetzte nicht isoliert zu kritisieren. Wir untersuchen in der Broschüre auch die strukturellen Folgen der Wirtschafts-, Beitritts- und Sparpolitik der EU, denn diese Sparmaßnahmen treffen eben besonders die Länder, die zur europäischen Peripherie gehören.
Wie ist die Lebenssituation von Roma und Romni in den »sicheren Herkunftsländern«?
Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens sind heute in keiner Weise sicher. Es geht dabei nicht nur um die ökonomische Sicherheit. Der Rassismus und Antiziganismus ist in den letzten Jahren auch in den »sicheren Herkunftsländern« angestiegen. Damit sind Roma und Romni nicht mehr vor Angriffen und Diskriminierung in der Öffentlichkeit sicher und sie sind auch von einer massiven sozioökonomischen Marginalisierung betroffen. Diese beiden Phänomene bedingen sich gegenseitig. Um das mal mit Zahlen zu veranschaulichen: Schätzungsweise leben in Serbien 500.000 Roma und Romni. Genaue Zahlen gibt es nicht, da viele Roma und Romni aus Angst vor weiteren Diskriminierungen sich nicht als solche deklarieren. Fast 99 Prozent der Roma und Romni sind nicht regulär beschäftigt. Etwa 120.000 leben in »informellen Siedlungen«. Dort gibt es kein Strom, kein Wasser und keine angemessene Infrastruktur. Es gibt keine richtige Behausungen, vielmehr wird aus Sekundärrohstoffen, wie Pappe oder Metall Wohnraum gebastelt. Weniger als 1 Prozent haben einen Hochschulabschluss. Das alles zeigt, wie Roma und Romni strukturell und institutionell benachteiligt sind.
Wie war die Situation für Roma und Romni vor dem Zusammenbruch des sozialistischen Jugoslawiens?
Für viele Roma und Romni bot sich im sozialistischen Jugoslawien die Möglichkeit, sozial »aufzusteigen«, weil Jugoslawien damals ein sozialer Staat war. Viele Roma und Romni hatten in dieser Zeit eine höhere Bildung erworben, hatten Zugang zum sozialen Wohnungsmarkt und konnten so aus der sozialen Isolation ausbrechen. Allerdings ist der Antiziganismus, den wir aktuell wahrnehmen, nicht aus dem Nichts entstanden. Auch in Jugoslawien waren rassistische Ressentiments gegen Roma und Romni verbreitet. Gleichzeitig waren sie in vielerlei Hinsicht auch damals marginalisiert. Zum Beispiel existierten auch im Sozialismus informelle Roma und Romni-Siedlungen. Ebenso wurde die Rolle der Roma und Romni während des Zweiten Weltkriegs in der offiziellen Geschichtsschreibung nicht adäquat dargestellt. Weder ihre Beteiligung am Partisanenwiderstand noch ihre Vernichtung wurde thematisiert. Der sozialistische Staat machte den Abbau von rassistischer Diskriminierung und die Integration der Roma und Romni zwar nicht zu seiner expliziten Aufgabe, aber sozialer Aufstieg und Integration waren nichtsdestotrotz möglich - einfacher als heute.
Wie hat sich dann die Lage der Roma und Romni während der Zerfallskriege geändert?
Die Kriege der 1990er Jahre im ehemaligen Jugoslawien waren alle nationalistisch. Der Grund, warum Roma und Romni vom Krieg ebenfalls negativ betroffen waren, ist auch darin zu suchen, dass sie kein eigenes Interesse an diesen Kriegen hatten und von allen Kriegsparteien argwöhnisch betrachtet wurden. Am deutlichsten wird das, wenn wir uns den Konflikt im Kosovo anschauen. Sie waren auf beiden Seiten unerwünscht und wurden entweder instrumentalisiert oder behandelt, als wären sie Kollaborateure der jeweils anderen Seite.
Viele der Roma und Romni sind damals vor diesen Kriegen nach Deutschland geflohen. Inwiefern sind sie von den neuen Gesetzesänderungen betroffen?
Roma und Romni, die während der Zerfallskriege in Jugoslawien nach Deutschland geflohen sind, wurden oftmals nicht als Flüchtlinge anerkannt, sondern über mehrere Jahrzehnte lediglich aus humanitären Gründen »geduldet«. Sie sind nun von der Abschiebung bedroht. Das bedeutet vor allem für die Jüngeren unter ihnen, in ein Land abgeschoben zu werden, das sie gar nicht kennen. Für einige ist ihr Herkunftsland Deutschland, denn dort sind sie geboren. Sie finden sich wieder in Ländern, deren Sprache sie oftmals nicht (ausreichend) können, wo sie maximal kurzfristige wohlfahrtsstaatliche Unterstützung erwarten können, oftmals keine, und wo sie von Diskriminierung und Marginalisierung betroffen sind. An reguläre Jobs ist nicht zu denken, viele sogenannte "Rückkehrer" müssen in informellen Siedlungen leben und versuchen auf irgendeine Weise wieder nach Westeuropa zu gelangen, oft illegalisiert.
Deutschland und Serbien sind sich trotz allem einig darin, dass Serbien ein »sicheres Herkunftsland« ist. Warum nimmt die serbische Regierung das Konzept der »sicheren Herkunftsländer« an?
Serbien muss auf seinem Weg zum zukünftigen Mitgliedsstaat der EU bestimmte Bedingungen erfüllen. Dazu gehören auch Gesetzesänderungen, die eine Überwindung der Diskriminierung der Roma und Romni zum Ziel haben. Doch im Lebensalltag der Roma und Romni haben diese Änderungen keine Wirkung, da sie nicht praktisch umgesetzt werden. Es wäre allerdings paradox und für den serbischen EU-Beitritt wenig opportun, wenn die serbische Regierung nun zugäbe, dass es kein »sicheres Herkunftsland« für Roma und Romni ist und diese Minderheitengruppe dort weiterhin auf allen Ebenen diskriminiert wird. Die deutsche Regierung weiß natürlich, in welch prekärer Lage Roma und Romni in Serbien leben müssen, hat aber wiederum ein Interesse daran, dass es für Roma und Romni unattraktiv ist, nach Deutschland zu migrieren.
Was denkst Du zur besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüber Roma und Romni, nicht zuletzt aufgrund deren Vernichtung während des Zweiten Weltkriegs?
Ich würde das nicht so moralisch betrachten. Wir können diese Vergangenheit berücksichtigen, aber wir müssen schauen, was die Lösung für die schlechte Situation von Roma und Romni heute ist. Die moralische Argumentation hat bisher einfach nicht funktioniert. Natürlich gibt es antiziganistische Kontinuitäten, und über diese muss auch öffentlich gesprochen werden. Aber die Verantwortung für die Vernichtung von Roma und Romni während des Nationalsozialismus wird kein Grund für das Recht auf Asyl sein.
Zwischen 2005 und 2015 wurde eine »Dekade der Roma und Romni« ausgerufen, die die Situation der Roma und Romni in den verschiedenen gesellschaftlichen Lebensbereichen verbessern sollten. Wie beurteilst du den Erfolg dieser Dekade?
Ich würde sagen, die Dekade der Roma und Romni hat Roma und Romni mehr geschadet, als dass sie ihnen wirklich geholfen hätte. Es wurde in dieser Zeit sehr viel Geld für Projekte ausgegeben, aber keiner weiß genau, was dann mit diesem Geld passiert ist. Diese Projekte haben keine wirkliche Veränderung für Roma und Romni herbeigeführt. In Serbien ist es zwar zu einer minimalen Verbesserung im Grund- und Mittelschulsystem gekommen, aber das steht in keinem Verhältnis zu den Millionen von Euro, die dafür ausgegeben wurden. Gleichzeitig bestätigt dieses Missverhältnis diejenigen, die denken, dass Roma und Romni sich nicht integrieren können und finanzielle Förderungen der Roma und Romni ein Fass ohne Boden seien. Wenn es tatsächlich zu einer Veränderung kommen soll, dann muss zuerst überlegt werden, wer an der Verteilung des Geldes beteiligt ist. In Serbien gibt es zum Beispiel 750 »informelle Siedlungen«. Es muss die Frage gestellt werden, warum so viel Geld für irgendwelche Projekte ausgegeben wurde, aber keine Wohnhäuser für Roma und Romni gebaut wurden. Derzeit ist Serbien gerade wegen der von IWF und EU verordneten Sparpolitik zu weitreichenden sozialen Kürzungsmaßnahmen gezwungen. In dieser sozioökonomischen Gemengelage kann die Dekade der Roma und Romni mit ihren Einzelprojekten wenig ändern. Wenn nun die Ausrichtung der Dekade so wäre, dass die lokalen Gemeinschaften der Roma und Romni selbst über die materielle Verteilung der Förderung hätten entscheiden können, dann hätte es zumindest eine partielle Verbesserung in der Wohnungsfrage oder bei der Inklusion in das Bildungswesen geben können.
Was können wir als radikale Linke in Deutschland und in Serbien gegen die verabschiedeten Gesetze zu den »sicheren Herkunftsländern« machen?
So lange die »Festung Europa« Bestand hat und weiter ausgebaut wird, sollte in Deutschland und Europa öffentlicher Druck ausgeübt werden. Abschiebungen in die Balkanstaaten müssen gestoppt werden. Wir brauchen eine Art internationale Kooperation, die die Politiken und Strukturen der EU angreift und gemeinsame Zielformulierungen artikuliert, nicht nur in Bezug auf die europäische Migrations- und Grenzpolitik. Denn derzeit kann das Kapital völlig frei fließen, gleichzeitig wird die Mobilität der Arbeitskraft stark kontrolliert. Der Kampf gegen die Asylrechtsverschärfungen darf nicht alleine, sondern muss in Verbindung mit anderen Bewegungen geführt werden. Es kann nicht nur darum gehen, gegen die Gesetzesänderungen der Migrationspolitik zu protestieren, sondern auch darum, um mehr soziale Rechte und Arbeitsrechte zu kämpfen.
Tamara Baković-Jadzić ist Aktivistin im Roma Forum Serbiens und Teil des Linken Bündnisses Serbiens. Sie ist außerdem Redakteurinhttp://www.masina.rs/ im Online-Portal masina.rs.
Mara Puskarević ist Mitherausgeberin des Buches »Mythos Partizan. (Dis-)Kontinuitäten der jugoslawischen Linken: Geschichte, Erinnerungen und Perspektiven«.