UMSCHWUNG IN PRIŠTINA
Autor: Nikola Vukobratović
Die am 6. Oktober abgehaltenen vorgezogenen Parlamentswahlen im Kosovo resultierten in einer klaren Niederlage der bisherigen Regierungsparteien. Angesichts der Ergebnisse ihrer Politik ist dies vielleicht noch die kleinste Überraschung. Die jetzt abgewählte Regierung war aus drei aus dem Kosovo-Krieg hervorgegangenen Parteien zusammengesetzt, welche allesamt von Kommandanten der ehemaligen Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) geführt werden. Die Regierung zerfiel, nachdem Ministerprӓsident Ramush Haradinaj wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen während des Kosovo-Krieges vom Haager Kriegsverbrechertribunal vorgeladen wurde. Diese Entwicklung machte den nun erstmaligen Wahlsieg der „antisystemischen“ Bewegung Vetëvendosje! (Selbstbestimmung) mӧglich.
Bei Vetëvendosje! handelt es sich um eine für die Verhältnisse auf dem Balkan ungewöhnliche Partei. Nicht etwa, weil Vetëvendosje! keine nationalistische Partei wäre (an ihrer nationalistischen Ausrichtung besteht kein Zweifel), sondern weil sie ihren Nationalismus nicht ausschließlich auf ethnischen Chauvinismus reduziert. Es handelt sich um eine Bewegung, die den Einfluss ausländischer Akteure eindämmen möchte, und zwar in einem Land, dessen Souveränität sogar noch viel stärker begrenzt ist als diejenige seiner Nachbarländer in der Region. Vetëvendosje! insistiert zudem auf einer Sozialpolitik, die viele Beobachter dazu veranlasst, sie dem linken Spektrum zuzuordnen. In den 1990er Jahren als gewaltfreie Studentenbewegung gegen die damalige Belgrader Zentralregierung entstanden, ist diese Partei mittlerweile zur populärsten Protestpartei im Kosovo herangewachsen, populär vor allem unter Jugendlichen, die im Kosovo einen höheren Anteil der Bevölkerung ausmachen als in jedem anderen Land Europas.
Eine Protestpartei an der Macht?
Albin Kurti, der sich schon seit mehr als zwanzig Jahren an der Spitze dieser Bewegungspartei befindet, hat als Wahlsieger nun die Möglichkeit, Ministerpräsident des Kosovo zu werden – unter der Voraussetzung, dass es ihm gelingt, sich die dazu notwendige Unterstützung des Parlaments zu sichern. Dafür ist eine Koalition mit der Demokratischen Liga des Kosovo nötig – einer Partei, die zwar ebenfalls nicht aus der UÇK hervorgegangen ist, aber ohne Zweifel dem alten Establishment zuzurechnen ist. Die Herausforderung, den Wahlsieg parlamentarisch abzusichern, ist jedoch bei weitem nicht das einzige Problem von Albin Kurti. Seine Wahlversprechen einer eigenständigeren und sozial ausgerichteten Politik, würden sich in keinem Land der europäischen Peripherie ohne Weiteres einlösen lassen. Für das verarmte und abhängige Kosovo gilt dies erst recht. Die Tatsache, dass der Kosovo sich gerade im Fokus der westlichen Mächte befindet, macht das Problem nur noch gravierender.
Sowohl die USA, als auch die EU, wollen ein baldiges Ende des Aussӧhnungsprozesses zwischen Belgrad und Priština, an dessen Ende die Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen und die euro-atlantische Integration beider Länder stehen soll. Die USA scheinen dabei die Strategie eines territorialen Austausches zu befürworten, während die EU Übergangslösungen favorisiert, die einen gewissen Einfluss Belgrads auf Priština enthalten würden. Die Forderungen von Vetëvendosje! gegenüber den Nachbarländern des Kosovo sind hingegen maximalistisch. Vetëvendosje! positioniert sich kategorisch gegen jedwede Form der Autonomie für die im Kosovo lebenden Serben, auch jegliche Einflussnahme aus Belgrad wird grundsätzlich abgelehnt. Noch kategorischer ist diese Partei in ihrer Ablehnung jeglicher Gebietsaufteilung zwischen Serbien und dem Kosovo. Vetëvendosje! scheute in der Vergangenheit nicht davor zurück, auch die Möglichkeit einer Vereinigung zu einem Groß-Albanien ins Spiel zu bringen – ein politischer «Albtraum» nicht nur für die Nachbarstaaten, sondern auch für einen Großteil der «Internationalen Gemeinschaft».
Die Situation wird zusätzlich erschwert durch den Wahlsieg der Serbischen Liste unter den Kosovoserben, einer Partei mit direkten Verbindungen zur Vučić-Regierung in Belgrad. Die Serbische Liste wird zum ersten Mal alle zehn Abgeordneten der serbischen Minderheit im Parlament des Kosovo stellen, was gleichzeitig bedeutet, dass Belgrad eine entscheidende Rolle in der Ernennung von Ministern aus der Quote der serbischen Minderheit spielen wird. Schon seit mehr als zwei Jahrzehnten lautet Vetëvendosjes! wichtigster Slogan: «Nein zu Verhandlungen – Selbstbestimmung». Jetzt wird sich die Bewegungspartei mit dem Druck konfrontiert sehen, über das Ausmaß der Unabhängigkeit des Kosovo und sogar über das Funktionieren der Regierung des Landes verhandeln zu müssen – und zwar mit Belgrad. Sollte Vetëvendosje! auf den bisherigen Positionen beharren, wird dies sehr schnell zum Konflikt mit jenen internationalen Kräften führen, deren Einfluss im Kosovo nicht zur Debatte steht und von keinerlei Verhandlungen abhängt.
Übersetzung aus dem serbokroatischen ins deutsche von Stipe Ćurković.
Erstveröffentlichung des Textes in serbokroatischer Sprache auf dem Online-Portal «Bilten», 07.10.2019.